Karin Nohr, Schriftstellerin

Herr Merse bricht auf

Rezension von link Dieter Bartetzko

Rette sich wer kann nach Sylt!

Ihr habt doch nichts erlebt“, raunzt Carmencita Velasquez, grantiger guter Geist einer winzigen katholischen Gemeinde in New York, den Schriftsteller Erik Steinbeck an. „Ihr wart mal besoffen, habt versucht, euch zu paaren, ihr habt jemanden in der Liebe enttäuscht und seid auch selbst mal enttäuscht worden. Einige von euch haben ein paar Tage lang mal Angst gehabt. Das reicht für jämmerliche drei Kapitel, aber dann ist Schluss!“ Recht hat die Frau, Randfigur in Hakan Nessers etwas lauem neuestem Krimi. Doch kaum hat man ihn beiseite gelegt, den Fernseher abgeschaltet, der rund um die Uhr solch dürftige Geschichtchen liefert und nach dem Roman von Karin Nohr gegriffen, zieht einen eine Erzählung, die Frau Velasquez sicher als jämmerlich bezeichnen würde, in Bann.

Ingo Merse, Hornist, vor drei Jahren geschieden, durchschnittlich enttäuscht, durchschnittlich geängstigt und durchschnittlich tablettenabhängig, trifft in Wenningstedt auf Sylt ein, um während des Sommerurlaubs sein Leben neu zu ordnen. Er hat zwei Reisebegleiter: Musils „Mann ohne Eigenschaften“ (diesen Wink mit dem Zaunpfahl verzeiht man der Autorin bald, denn sie verwebt Musil-Zitate wunderbar mit der Gedankenwelt ihrer Hauptfigur) und die Angst, auch als Musiker zu versagen.

Wie die Klette am Angorapulli

Dagmar, seine Exfrau, Flötistin, die ihn wegen eines zehn Jahre jüngeren Dirigenten verlassen hat, drückte Herrn Merse Musils Roman beim Auseinandersortieren der Habe mit einem „passt besser zu dir“ (über das er noch immer grübelt) in die Hand; sie würde ihm auch ohne Zögern bestätigen, dass er ein Versager sei. Die Frau ist eine nervende Schreckschraube, wie sie jeder aus seinem Bekanntenkreis kennt - nie um allerneueste Plattitüden verlegen, Meisterin der Strategie, ungeschoren davonzukommen, sich durchzusetzen, ihren Vorteil zu wahren. Sie hat „sich erst mal sortieren“ müssen, als ihre Affäre aufflog, sprach von „nur räumlich trennen, dann sehen wir weiter“, um zuletzt mit dem unsäglich banalen „die Chemie stimmt nicht“ wegzubleiben.

Wie gewöhnlich diese Frau ist (dass sie passabel sensibel die Querflöte spielen soll, ist die einzige - aber lebensnahe - Ungereimtheit an ihr), weiß man nach den ersten inneren Monologen des Herrn (Karin Nohr nennt ihn fast immer so) Merse. Nur er selbst weiß es nicht, hängt innerlich an der Ex wie die Klette am Angorapulli, rechtfertigt sich, aber auch sie, pausenlos in seinen Gedanken, fühlt sich schuldig, tapsig, schwach, zweifelt an seiner Männlichkeit, läuft, äußerlich unauffällig, seit „der Sicherheitskokon Ehe“ fehlt, wie gehäutet umher. Und das nach jahrelanger Therapie. Doch die hat nichts bewirkt außer einer ausgewachsenen Tablettensucht.

Die Schutzhülle der Durchschnittsehe

Dagegen will er nun auf Sylt angehen, respektive „sich rausschleichen“. Womit schon klar ist, dass der Versuch so kläglich scheitern wird wie sein Vorsatz, endlich intensiv die Kompositionen des verehrten Brahms zu üben. Auch der Aufstand gegen die Besitzerin der Sylter Ferienwohnung, Herrn Merses Schwester, deren ungebremste Tatkraft gerade dem Schwager einen Schlaganfall eintrug und ihm, Merse, von Kind an Minderwertigkeitskomplexe einimpfte, wird scheitern. Als sie telefonisch ihr und des invaliden Gatten Kommen sowie seine Abschiebung ins Gasteck ankündigt, weigert er sich kindlich trotzig - und verkriecht sich dann doch, ein streitunfähiger Ausreißer, nachts unter einem Strandkorb vor den Wolkenbrüchen eines Sommergewitters, was er sich, unterstützt von Pillen, als Rebellentum anrechnet.

Als kurz nach Herrn Merses Ankunft die Nachbarn sich sein Hornspiel als Lärmbelästigung verbitten, kneift er. Trifft Seewind seinen Körper, schreckt er vorm Schwimmen zurück. Statt sich Brahms zu stellen, liest er andächtig dessen Biographie. Warum nur folgt man trotzdem gespannt dem wirren Innenleben dieses Nichthelden und Nebenanmanns? Darum zum Beispiel, weil Karin Nohr ihn Sätze wie diese denken lässt: „Vor dem dunklen weiten Horizont seines warmen Hornklangs schwebte sie mit ihrem schlanken geraden Silberstrahl flink und geschmeidig wie eine Schwalbe. So hatte er es empfunden.

Herrn Merse, der so hilflos und selbsttäuscherisch liebt und manchmal still wie ein versponnenes Kind Seesterne oder Strandgestrüpp bestaunt, kommen mit der Brise und den Sommerwolken sonderbare Geschichten in den Sinn. Der „Saugraum der Stille“ (Musil) hat ihm unmerklich die Schutzhülle der Durchschnittsehe ersetzt. Aber als er am Nachbarstrandkorb einen gehemmten Jungen und dessen pubertär mürrische Schwester kennenlernt, verhält er sich intuitiv so verständig (nicht, ohne sich unentwegt zu fragen, ob er das Falsche tut), dass man ihn sofort beneidet.

„Sie sind ein ungewöhnlicher Mensch“

Dann kommt die Mutter der beiden ins Spiel; nett, unbefangen, überlastet. Eingestreute Bemerkungen deuten auf eine belastende Beziehung mit einem anderweitig gebundenen Mann hin - die klassische Ausgangsbasis für eine Patchwork-Beziehung. Auf so etwas aber würde Merse nie kommen. Er denkt über das Wesen der beiden Kinder nach, über das der Frau, verliebt sich - natürlich mit schlechtem Gewissen -, verstrickt sich in Phantasien eines künftigen Lebens zu viert, wird getäuscht und enttäuscht. Die Nackenschläge der Realität federt er mit noch mehr Tabletten ab, oder schlägt mitleiderregend ungeschickt zurück, was ihn in immer neue, traurig-komische Verwicklungen treibt.

Am Ende, er hat noch das Sylter Salz auf den Lippen, sitzt Merse wartend vor einer Psychiatrie, halluziniert eine Karriere als krankes Genie, schläft ein. „Ich freue mich für Sie, Sie sind ein ungewöhnlicher Mensch“ steht auf einer Karte, die er im Traum erhält. Der Satz ist die vorletzte Zeile des kurzen Romans, fasst das Sehnen und die unauflöslichen Selbstzweifel Herrn Merses in Worte - und schnürt einem die Kehle zu. Denn er bündelt, was wir alle am Leben fürchten: unserer Ungewöhnlichkeit so lange zu misstrauen, bis wir uns selbst für so durchschnittlich halten wie unsere Umgebung uns sieht. Frau Velasquez hat Unrecht: Auch ein paar Tage Durchschnittlsleben können Schicksal sein, von dem man atemlos liest.

 

Karin Nohr, Herr Merse bricht auf,
Roman,
München 2012,
ISBN 9783641073756,
Preis: 8,99 EUR

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